Mobilität und sozialer Egoismus

Die Zeit

Wirtschaft 14.08.2008

Der Mauerfall und der zeitgleiche Zusammenbruch des Realsozialismus ermöglichten einen ungehinderten weltweiten Austausch von Waren und Menschen, vor allem solcher in gehobenen Positionen, die mittels Cross-Pollination die Ideen, die sie östlich vom Ural oder auf der anderen Seite des Atlantiks aufgesaugt hatten, auf die europäische Gesellschaft übertrugen. Die Jungdynamiker, mit Master-Diplom einer- vielleicht selbstreferentiellen, auf jeden Fall hochkarätigen – Kaderschmiede für Networker und Senkrechtstarter aller Art in der Wirtschaft, fanden im endlich vom Gespenst des Kommunismus befreiten Europa einen fruchtbaren Boden für ihre Experimente. Der halbe Kontinent stand in den Startlöchern und wollte sich rasch an die westlichen Reichtümer beteiligen. Schade, dass man dort bisher Plattenbauten und Trabis produziert hatte, die nicht gerade das Potential zu einem weltweiten durchschlagenden Erfolg in sich bargen.

Da kamen die Besserwessis, die bereits „namhafte Beratungsfirmen“ als Vorboten einer freien, marktwirtschaftlichen, modernen Unternehmenskultur in die immer kälter werdende Flure von Übernahmekandidaten erlebt hatten, und daher die neuen Spielregeln ziemlich genau kannten. So wurde über Nacht im Osten verkündet, das bisherige Wissen reiche bei Weitem nicht aus, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern: Der ehemalige Genosse blieb arbeitslos, musste aber 400 DM im Monat statt 40 M für die Miete bezahlen, und der Wessi, der oft Frau und Kinder zwischen München und Kiel hatte, düste jeden Freitagabend auf der Autobahn in Richtung Westen, und jeden Montagmorgen gen Osten. Man konnte die Mobilität buchstäblich an den Staumeldungen messen.

Schon einige Jahre davor, als Massenarbeitslosigkeit sich bereits anbahnte und die ersten Heuschrecken kamen, freilich ohne zu ahnen, wie man sie später taufen würde, kamen Mobilität und Flexibilität immer stärker ins Gerede, nahmen in den Wunschlisten der Personalberater die Stelle von „sicherem Auftreten“ ein, dem einst die „fachliche Kompetenz“ gewichen war. Wenn Scheinen wichtiger wird als Sein, dann begibt sich das vom Wertewandel betroffene Volk auf der Suche nach einem Mächtigen, dem seine Nase passt. Und der wohnt nicht immer um die Ecke.

Der Mächtige, zum Beispiel jemand von jener Sorte, die beschlossen hat, dass Arbeitnehmer über 45 zum alten Eisen gehören, interessiert sich für das soziale Umfeld des Mitarbeiters in spe gar nicht. Ganz im Gegenteil: Er will hören, dass ihm Familie, Bekanntenkreis, Vereine, also das Privatleben schlechthin, sehr egal sind, da nur die Arbeit, die Karriere zählt. Wenn man als Manager sowieso nicht delegieren kann und ein hohes Gehalt mit einer Unzahl von Überstunden und betrieblich geplanten sozialen Events rechtfertigen muss, spielt es eine Rolle, ob man in Herne 2 oder in München wohnt? Der Bewerber muss seine Flexibilität unter Beweis stellen: Sein eiserner Wille, sich einen Platz an der Sonne in einer angesehnen Firma zu ergattern, soll klar erkennbar sein. Und wenn er es trotz Flexibilität und Mobilität nicht schafft und die ganzen Opfer damit für die Katz sind?

„Aber, Herr Kollege! Training on the Job ist unverzichtbar! Sie sollten jetzt ein Sabbatical einlegen, ein schönes Praktikum in den USA, dann sich bei einer anderen Firma bewerben… Wissense, wenn man nach einem, zwei Jahren in einer Firma nur horizontale Karriere macht, dann ist Sand im Getriebe, man braucht frische Luft, verstehen Sie, junger Mann, hier läuft für Sie nichts mehr!“

Der junge Mann versteht, verzichtet erneut auf Familiengründung und eigene Kinder, vertag alles auf den Zeitpunkt, wenn er eine nicht so mobile Beschäftigung gefunden haben wird und geht auf Wanderschaft.

Plötzlich steht der Flexible, der Mobile, mit 45 allein da, sein Lebenslauf hat ihn zum „Job-Hopper“ abgestempelt, die Frau, die er sich irgendwannmal zugelegt hatte ist längst weg, die Kinder, die er irgendwannmal gezeugt hatte, müssen zur Privatschule und er wird sie mit Sicherheit bis zum 35. Lebensjahr ernähren müssen. Der Mobile stellt Bewerbungsmappen zusammen, da er Deutschland doch nicht den Rücken gekehrt hat, und erfährt von jungen Hüpfern, dass „der Auftraggeber seine Qualifikationen sehr zu schätzen weiß, aber andere Bewerber, die dem speziellen Anforderungsprofil noch besser entsprachen, in die engere Auswahl gekommen sind“. Er versteht, dass sich ein Jüngerer die Stelle geschnappt hat und wertet die Briefe dieser Art nicht als „Urteile über seine Qualifikation“.

Noch zu viele Ersparnisse für Hartz IV, noch 22 Jahre bis zur Rente.