Die Zeit
International 21.03.2008
Die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovos und seine erfolgte internationale Anerkennung haben zum ersten Mal ein Exempel dafür statuiert, dass das Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes entgegen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat nicht nur Bestandteil einer frommen Erklärung über die Menschenrechte ist, sondern auch politische Schlagkraft besitzt. Davor haben Länder wie China, Spanien und Italien Angst. Wenn nämlich die Unabhängigkeit des Kosovos am serbischen Willen vorbei erklärt und anerkannt werden konnte, warum sollte nicht z.B. den Südtirolern das Recht auf eine Volksabstimmung zustehen?
Betrachten wir die Angelegenheit aus einem anderen Blickwinkel: Sind die heutigen Nationalstaaten, mit ihren mit Blut erkämpften Grenzen die alleinseligmachende treibende Kraft der EU und der Welt? Ist es immer noch zeitgemäß an Staatengebilden festzuhalten, die als Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen oder von diplomatischen Pirouetten entstanden sind? M.E. macht sich seit einigen Jahren in gewissen Gegenden Europas, nämlich dort, wo die Grenzen in den letzten Jahrzehnten häufig geändert wurden, ein Bestreben breit, sich in Euregios zu organisieren. In manchen Fällen, wie Silesia und Oberrhein, wird es sich praktisch nur um eine verbesserte Form der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit handeln, aber es gibt in der Tat auch Euregios, die, wenigstens unterschwellig, Ausdruck des Willens ihrer Bevölkerungen sind, sich in einem anderen Staatengebilde wiederzufinden, natürlich gewaltfrei und unter Berücksichtigung des EU-Rechts.
Ich wohne zur Zeit zwischen Mainz und Triest und kann hautnah erleben, wie die Euregio Alpen-Adria (Venetien, Friaul-Julisch Venetien, Kärnten, Teilgebiete Sloweniens und Kroatiens) großen Anklang in der Meinung der jeweiligen Bevölkerungen erfährt. Es ist nicht mit gesundem Menschenverstand zu begreifen, wieso auf der italienisch-slowenischen Grenze eine nie davor geahnte Anzahl von Spielbanken (natürlich auf slowenischen Boden) gedeiht, die vornehmlich von italienischen Staatsbürgern besucht werden, während sich die Regierung in Rom hartnäckig weigert, das dort verspielte Geld in den heimatlichen Gefilden zu halten. Eine Vielzahl von Friaulischen und Venetischen Firmen haben bereits Produktionsstätten nach Kärnten und Slowenien verlagert, da man dort etwa 25% Unternehmenssteuer bezahlt, im Vergleich zu Sätzen von über 40% in der italienischen Republik. Man könnte auch weiter fortführen, mit den unterschiedlichen Arbeitskosten, mit den sehr eklatanten Unterschieden beim täglichen Lebensmitteleinkauf und bei der Mahlzeit in den Gaststätten. Was Kroatien, in diesem Fall Istrien noch betrifft, ist die seit dem Ende des 2.WKs andauernde Feindseligkeit zwischen Istriern italienischer und kroatischer Abstammung, aufgrund der gewaltsamen Vertreibung von nicht kommunistisch gesinnten Italienern aus Istrien und der Konfiszierung derer Häuser. Nun, in einer gemeinsamen Euregio hätten all diese Motive der Unzufriedenheit keinen Bestand mehr, da eine übergeordnete, von keinem der daran Teil nehmenden Staaten beeinflusste Regierung für Zucht und Ordnung sorgen würde. In breiten Schichten, vor allem der italienischen Bevölkerung, macht sich auch die Hoffnung breit, innerhalb einer Euregio würde man die Politiker besser kontrollieren können, da diese nicht nur von der alleinigen Zustimmung ihrer Clientelen abhängig wären, sondern sich dem Urteil unbefangener, oder, besser gesagt, mit anderen Verbänden kompromittierten Kollegen unterwerfen müssten.
Das mögen die italienischen Medien ganz und gar nicht. Es wird zur Zeit eine, zugegebenermaßen unblutige, Rufmordkampagne seitens der rechten Parteien, die, nebenbei gesagt, auch zahlreiche neo-faschistische Gruppierungen in ihre Wahlkoalition hereingelassen haben, gefahren. Der Gipfel der Unverschämtheit der italienischen Rechten ist die Aussage, dass die Euregio das schimärenhafte Land „Padania“ teilen würde und damit die Einheit des italienischen Nordens gefährden würde. Es ist mir verständlich, weshalb man jetzt „Padania“ aus der Mottenkiste holt: Es wäre immer noch das kleinere Übel, man könnte sie als neue Regionalisierung verkaufen, immer noch stark an Roms Anweisungen binden, vor allem, würde man sich von keinen „Ausländern“ kontrollieren lassen. Die Faschisten übersehen damit, dass man damit zwei mitteleuropäisch fühlende und noch einigermaßen geregelte Regionen um ihre Chance bringen würde, sich auf den EU-Durchschnittstand zu bringen. Man vergesse nicht, dass Friaul-Julisch Venetien die einzige Region der Italienischen Republik ist, die eine Sozialhilfe kennt: Der „normale“ Italiener, der arbeitslos wird, bekommt 8 Monate lang ALG und muss dann zusehen, wie er über die Runden kommt. Ganz zu schweigen von der kulturellen Unterdrückung der deutschsprachigen Minderheit in diesen Breiten.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich meine, dass Europa, das zusammen mit dem Rest der Welt inmitten einer epochalen Reform der Werte steht, sich ernsthaft überlegen sollte, ob die Nationalstaaten, als Folgen der Aufklärung, der Romantik und Fichtes Reden, noch zeitgemäß sind. Die globale Herausforderung verlangt neue Formen der legislativen und exekutiven Gewalt und ein Europa mit derart gespaltenen Steuersystemen wird auf Dauer nicht in der Lage sein, sich der weltweiten Konkurrenz zu stellen.
In diesem Licht sollten auch die Ereignisse im Tibet gesehen werden: Es ist natürlich einleuchtend, dass die Tibetische Bevölkerung nur wenig mit der Chinesischen zu tun hat, es wäre aber wünschenswert, wenn man sich über andere Arten der Zusammenarbeit unterhalten könnte, die nicht unbedingt eine erzwungene Angehörigkeit zu einem als fremd empfundenen Staat voraussetzen würden. Die Zukunft kommt schneller als erwartet auf uns zu und, wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.