Wer ist das Volk?

Die Zeit

Kultur 13.09.2008

Auf den Montagsmärschen kamen keine Zweifel auf: Das Volk stand auf der Straße und verpasste langsam aber sicher einem bröckelnden System die Todesstöße. Nichts widersprach mehr den Blut-und-Boden-Theorien aus Romantik und Nazizeit als die Ansicht zweier genetisch weitestgehend gleicher Völker, die, nicht ganz freiwillig, während der Nachkriegszeit zwei völlig unterschiedliche Wege der „Auferstehung aus Ruinen“ gegangen waren, eine Wiedervereinigung anstrebten, im vollen Bewusstsein der historisch bedingten Unterschiede zwischen Ost und West.

Ja, die Mauer aus Steine fiel, aber die Chromosome tun sich heute noch sehr schwer, die Mauer in den Köpfen zu beseitigen. Wenn das genetische Märchen ein Fundament hätte, dann wären die Arbeitslosigkeitsrate in Niedersachsen und in Sachsen-Anhalt ähnlich. Die klaffenden Unterschiede zwischen beiden Seiten des Harzes suggerieren, dass Spenglers Blut doch eher eine biochemisch als eine anthropologische Rolle spielt. Einen ersten Vorgeschmack auf die volksverbindenden Eigenschaften des Blutes hatten wir bereits gehabt, als die ersten Russland-Deutschen in die Bundesrepublik kamen, sofort einen deutschen Pass ausgehändigt bekamen und doch dem Standardbild des Deutschen nicht entsprachen.

Solange man versuchen wird, ein Volk seiner biologischen Abstammung entsprechend zu definieren, werden wir den NSDAP-Beigeschmack des Wortes „Volk“ nie los. In einem Europa des Austausches, der Mobilität und der Migration, kann ein „Volk“ nur kulturell, anhand von Muttersprache, Erziehung, gemeinsamen Werten und gesellschaftlichen Vorstellungen definiert werden. Dies schließt naturgemäß nicht aus, dass Mischehen und Migrationen im Laufe der Zeit ein Individuum veranlassen, sich die bohrende Frage nach seiner „völkischen“ Identität zu stellen.

Ich bin selbst von den Wirren unserer Zeit betroffen, als Nachfahre eines ladinischen Vaters und einer deutsch-schweizerischen Mutter, nach langen in Italien und fast ebenso langen in Deutschland verbrachten Jahren und mit einer ecuadorianischen Ehefrau verheiratet. Soll ich vielleicht versuchen, mein chromosomalen Erbgut von Genetikern untersuchen zu lassen? Mich als „Mitteleuropäer“ zu bezeichnen ist noch nie falsch gewesen. Wenn ich, vor allem mit mir selbst, noch genauer sein will, dann überlege ich nicht lange und schaue einfach, zum Beispiel auf welchen Zeitungen ich meine Kommentare schreibe, oder welches Gefühl ich beim Überschreiten einer Grenze oder bei der Landung in einem bestimmten Flughafen verspüre. Dann ist es klar, ich freue mich mehr auf eine Landung in Frankfurt als auf eine in Triest, und brauche keine Genetiker und keine einer Ahnentafel abgeleiteten Prozente um eine künstliche Antwort auf eine künstliche Frage zu konstruieren.